1 2 

Diogenes mokierte sich über die Sprachgelehrten, die alles über die Leiden des Ulysses zu erforschen suchen, doch über ihre eignen nichts wissen, über die Musiker, die ihre Flöten stimmen und ein unstimmiges Leben führen, sowie über die Redner, die Gerechtigkeit zu predigen lernen, nicht aber, sie zu üben. Wenn das Studium nicht dazu führt, daß unsre Seele muntrer ausschreitet, wenn es unser Urteilsvermögen nicht kräftiger macht, könnte der Student von mir aus seine Zeit ebensogut beim Paume-Spiel verbringen - zumindest sein Körper würde hierdurch biegsamer. Seht ihn euch doch an, wie er nach fünfzehn, sechzehn Jahren heimkehrt: Niemand ist zum Arbeiten weniger zu gebrauchen als er! Der einzige Fortschritt, den ihr seit seinem Weggang von zu Hause an ihm erkennen könnt, ist, daß sein Latein und sein Griechisch ihn eitler und anmaßender gemacht haben. Mit erfüllter Seele hätte er zurückkommen müssen, aber sie ist ihm nur geschwollen: Er hat sie aufgeblasen, statt sie wachsen zu lassen. Die Schulmeister, von denen hier die Rede ist, sind (wie Platon von ihren Brüdern im Geiste, den Sophisten sagt) unter allen Menschen diejenigen, die den anderen am nützlichsten zu sein versprechen und dabei als einzige unter allen Menschen das ihnen Anvertraute nicht nur nicht in Ordnung bringen, wie es jeder Zimmermann und jeder Maurer tut, sondern es verschandeln und sich hierfür noch bezahlen lassen. Protagoras schlug seinen Schülern vor, sie sollten ihm für seine Dienste entweder die von ihm geforderte Summe zahlen oder aber im Tempel schwören, wie hoch sie den aus seinem Unterricht gezognen Nutzen einschätzten, und ihn dann dementsprechend für seine Mühe entlohnen. Übernähme man dieses Verfahren bei uns, würden meine Pädagogen, wenn sie sich nach meinem Eid über die mit ihnen gemachte Erfahrung richten müßten, recht begossen dastehn. Mein périgordischer Volksmund nennt diese Möchtegerngelehrten höchst witzig Lettreférits, was soviel wie Bildungskrüppel heißt, als hätten sie beim Studium einen Folianten auf den Kopf bekommen. In der Tat scheinen sie meistens noch unter den gesunden Menschenverstand gesunken zu sein. Den Bauern oder den Schuhmacher seht ihr schlicht und einfach zu Werke gehn; und sie sprechen nur von dem, was sie wissen. Diese hingegen wollen mit dem Angelesnen, das auf der Oberfläche ihres Hirns dahintreibt, sich großtun und den starken Mann spielen; gerade hierdurch aber verheddern und verhaspeln sie sich ohne Unterlaß. Haltlos entströmen ihnen schöne Worte - mag ein andrer sehen, wie er damit zurechtkommt. Von Galen wissen sie viel, vom Kranken nichts. Sie haben euch den Kopf längst mit Paragraphen vollgeschwätzt, den springenden Punkt der Sache aber noch immer nicht erfaßt. Von allem wissen sie die Theorie - sucht euch einen, der sie in die Praxis umsetzt! Ich habe daheim erlebt, wie ein Freund von mir mit einem dieser Leute zu tun hatte und zum Jux auf ein ihren Jargon nachahmendes, aus sinnlosen Sätzen und Zitatfetzen bestehendes Kauderwelsch verfiel, in das er jedoch öfters zu ihrer Debatte passende Wörter einflocht; auf solche Weise hielt er den Toren einen ganzen Tag lang beschäftigt, da dieser stets im Glauben war, er antworte auf ernstgemeinte Einwände - dabei war er ein angesehner Literaturkenner, der an der Universität eine hohe Stellung bekleidete! Patrizier, ihr könnt nicht nach hinten sehn nicht sehn, welch lange Nase sie euch drehn! Wer sich Leute dieser Art, die fast überall zu finden sind, aus der Nähe betrachtet, wird wie ich feststellen, daß sie meistens weder sich selbst noch andere verstehn und zwar ein recht volles Gedächtnis, aber einen durch und durch hohlen Verstand haben - es sei denn, ihre Natur gab ihnen einen entgegengesetzten Zuschnitt, wie ich es bei Adrien Turnèbe sehen konnte: Er befaßte sich beruflich mit nichts anderem als Literatur und war darin meiner Meinung nach der größte Mann der letzten tausend Jahre, hatte aber überhaupt nichts schulmeisterlich Verschrobnes an sich, es sei denn in seiner Kleidung und einigen sonstigen Äußerlichkeiten, die nach höfischer Etikette wohl als unfein gelten mochten; aber diese Dinge sind doch nichtig. Überhaupt hasse ich bei uns die Leute, die sich über einen schiefen Rock mehr ereifern als über eine schiefe Seele und einen Menschen nach seinem Kratzfuß, seinem Gehabe und seinen Schuhen beurteilen. In seinem Innern jedenfalls war Turnèbe der feinste Geist der Welt. Ich habe ihn oft absichtlich auf Themen wie Kriegs- und Staatskunst gebracht, die von seinem Metier weit ablagen; er bewies aber selbst darin einen derartigen Klarblick, eine derart rasche Auffassungsgabe und ein derart treffliches Urteilsvermögen, daß man meinen konnte, er habe sich nie mit etwas anderm befaßt. Das sind schöne und starke Naturen, denn deren Innres hat Prometheus' Gunst aus beßrem Ton geformt, mit großer Kunst, und denen folglich eine schlechte Erziehung überhaupt nichts anhaben kann. Nun reicht es aber keineswegs, daß unsere Erziehung uns nicht verdirbt - sie muß uns zum Beßren wandeln, sonst ist sie nutzlos und vertan. Einige unsrer Gerichtshöfe prüfen bei der Einstellung von Richtern nur ihr Wissen; die anderen jedoch stellen außerdem deren gesunden Menschenverstand auf die Probe, indem sie ihnen eine Rechtssache zur Urteilsfindung übergeben. Das scheint mir ein viel ratsameres Verfahren; und obwohl beides erforderlich ist und vorhanden sein muß, kommt dem Wissen ein geringerer Wert zu als dem Verstand: Dieser kann auf jenes verzichten, jenes aber nicht auf diesen - wie schon der griechische Vers besagt: Was erbringt die Wissenschaft, fehlt es an Verstandeskraft? Wollte Gott, daß zum Wohle der Gerechtigkeit sich in unsren Richterkollegien genausoviel Verstand und Gewissen fänden wie Wissen! Nicht fürs Leben, für die Schule lernen wir. Um dem abzuhelfen, darf man das Wissen nicht einfach der Seele anhängen, man muß es ihr einverleiben; man darf sie nicht nur besprühen, man muß sie durchtränken damit; wenn es sie jedoch nicht ändert und ihren unvollkommnen Zustand vervollkommnet, ist es gewiß viel besser, es fahrenzulassen: Das Wissen ist ein gefährliches Schwert, das seinen Träger selbst, hat er eine schwache Hand und vermag es nicht zu führen, behindert und verletzt, so daß es besser wäre, nichts gelernt zu haben. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir wie die Theologen von den Frauen kein großes Wissen verlangen. Als man Franz, dem Herzog der Bretagne und Sohn von Johann V., in einem Gespräch über seine bevorstehende Vermählung mit der schottischen Prinzessin Isabeau berichtete, sie sei auf schlichte Weise, ohne den geringsten Unterricht im Buchwissen erzogen worden, antwortete er, dafür liebe er sie nur um so mehr, denn eine Frau sei gebildet genug, wenn sie ihres Ehemannes Hemd und Wams zu unterscheiden wisse. Deshalb ist es gar nicht so verwunderlich, wie das Geschrei hierüber vermuten ließe, daß unsere Vorfahren keinen großen Wert aufs Buchwissen gelegt haben und daß es sich heute noch bei den einflußreichsten Ratgebern unsrer Könige höchstens durch Zufall findet; und wenn man uns als einziges Ziel der Jurisprudenz, der Medizin, der Pädagogik und sogar der Theologie gegenwärtig nicht die materielle Bereicherung hinstellte und es wenigstens auf diese Weise in Ansehn hielte, würde es zweifellos weiterhin sein Aschenputteldasein fristen wie eh und je. Was aber wäre daran so schlimm, wenn es uns doch weder richtig zu denken noch richtig zu handeln lehrt? Jedes Wissen schadet dem, der kein Wissen vom Guten hat. Seit die Gelehrten auftreten, sind die Rechtschaffnen abgetreten. Aber könnte die Ursache des Übels, wie ich sie oben aufzuspüren suchte, nicht auch in folgendem bestehn: Da eben das Studieren hierzulande fast ausschließlich aufs Geldverdienen abzielt, widmen sich unter denen, welche die Natur für edlere Aufgaben als die lukrativen zur Welt kommen ließ, nur wenige den Geisteswissenschaften - und wenn, dann so kurz (pflegen sie sich doch, ehe sie daran Geschmack finden, auf einen Beruf zurückzuziehn, der nichts mit Büchern zu tun hat), daß meistens das Feld den Leuten vom unteren Stand überlassen bleibt, die sich dem Studium zwar voll und ganz verschreiben, aber lediglich, um auf diese Weise zu einem Broterwerb zu kommen. Und da der Geist dieser Leute von Natur aus sowie wegen der Familienverhältnisse, in denen sie erzogen wurden und ihre Leitbilder erhielten, von niedrigstem Feingehalt ist, vermitteln sie uns ein falsches Bild vom Nutzen der Wissenschaft. Es ist nämlich keineswegs deren Sache, dem Geist ein Licht aufgehn zu lassen, das er nicht selber schon hat, und ebensowenig, einen Blinden sehend zu machen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, einem Sehenden die Blickrichtung zu weisen und ihm, falls er von sich aus gut zu Fuß ist und über gradgewachsne, tüchtige Beine verfügt, als Schrittmacher zu dienen. Die Wissenschaft ist eine gute Arznei; doch keine Arznei ist stark genug, ihre Heilkraft unvermindert und unverdorben zu bewahren, wenn das Gefäß nichts taugt, das sie aufnimmt. Mancher sieht klar, aber schielt; so hat er zwar das Rechte im Blick, aber folgt ihm nicht; er sieht die Wissenschaft, aber bedient sich ihrer nicht. In Platons Staat ist die wichtigste Anordnung, den Bürgern die Aufgaben ihrer Natur nach zuzuweisen. Die Natur kann alles und richtet alles: Lahme Körper eignen sich schlecht für Leibesübungen, und schlecht für Geistesübungen lahme Seelen - die niedrigen und mißgebornen aber sind der Philosophie unwürdig. Wenn wir einen schlecht beschuhten Mann sehen, der Schuster ist, pflegen wir zu sagen, da brauche man sich ja nicht zu wundern. Ebenso begegnen wir, wie die Erfahrung zeigt, oft Ärzten, die offensichtlich schlechter verarztet, Gottesgelehrten, die minder gottgefällig, und Wissenschaftlern, die weniger wissend sind als jeder andre. In der Antike sagte Ariston aus Chlos zu Recht, die Philosophen schadeten oft ihren Zuhörern, da die meisten Seelen unfähig seien, aus solcher Unterweisung Nutzen zu ziehn, und diese dort, wo sie das Gute nicht erreiche, das Schlechte bewirke: Aus der Schule des Aristippos, erklärte er, gingen Wüstlinge hervor, aus der Zenons Flegel. Nach der schönen Erziehungsmethode, die Xenophon den Persern zuschreibt, brachten sie ihren Kindern die Tugend so bei, wie andre Völker den ihren das Lesen. In den dortigen Königshäusern, sagt Platon, wurde der jeweils älteste Sohn folgendermaßen zum Thronerben erzogen: Man übergab ihn nach seiner Geburt nicht Frauen, sondern denjenigen Eunuchen, die im Hofstaat wegen ihrer Tugendhaftigkeit das höchste Ansehn genossen; sie hatten für die Schönheit und Gesundheit seines Körpers zu sorgen, und sobald er sieben Jahre alt war, lehrten sie ihn reiten und jagen. Hatte er das vierzehnte Lebensjahr erreicht, vertrauten sie ihn vier Männern an: dem weisesten, dem gerechtesten, dem gemäßigsten und dem tapfersten ihres Volks. Der erste lehrte ihn den Glauben, der zweite, stets die Wahrheit zu sagen, der dritte, seine Leidenschaften zu beherrschen, und der vierte, sich vor nichts zu fürchten. Es verdient höchste Beachtung, daß das hervorragende, durch seine Vollkommenheit wahrhaft monumentale Gesetzgebungswerk des Lykurg zwar großen Wert auf die Kindererziehung legt und sie sogar im musischen Bereich dem Staat als Hauptaufgabe zuweist, aber kaum etwas über die Wissensvermittlung sagt: als ob man es für erforderlich gehalten habe, der edelmütigen Jugend Spartas, die kein anderes Joch als das der Kampfmoral zu tragen bereit war, statt wie bei uns Wissenschaftslehrer nur Tapferkeits-, Besonnenheits- und Gerechtigkeitslehrer zu geben - ein Beispiel, dem Platon in seinen Gesetzen dann folgte. Das Unterrichtsverfahren der Perser bestand darin, die Zöglinge zu fragen, wie sie die Menschen und ihre Handlungen bewerteten; und wenn sie in ihrer Antwort eine bestimmte Person, eine bestimmte Tat verurteilten oder lobten, mußten sie das begründen; auf diese Weise schärften sie ihren Verstand und lernten zugleich rechtlich denken. Im Xenophon bittet Astyages den Kyros zu erzählen, was er in der letzten Unterrichtsstunde gelernt habe. Der Zögling antwortet: »Es ging darum, daß in unserer Schule ein großer Junge, der einen kleinen Mantel hatte, ihn einem kleineren Kameraden gegeben und ihm dafür dessen größren weggenommen hatte. Mein Lehrer machte mich nun zum Richter über diesen Streitfall, und mein Urteil lautete, daß man die Sache auf sich beruhn lassen solle, weil so beiden offensichtlich am besten gedient sei; daraufhin warf er mir vor, meine Sache schlecht gemacht zu haben, da ich mich auf die Zweckdienlichkeit beschränkt hätte, während es erforderlich gewesen wäre, zuerst die Rechtslage zu beachten, nach der niemandem das, was ihm gehöre, gewaltsam weggenommen werden dürfe.« Und der Zögling fügt hinzu, daß er dafür geschlagen worden sei - wie es den Schülern hierzulande widerfährt, wenn sie den ersten Aorist des griechischen Wortes für schlagen vergessen haben. Mein Schulmeister müßte mit Engelszungen auf mich einreden, wenn er mich überzeugen wollte, daß seine Schule genausoviel wert sei wie jene. Dort nämlich suchte man Umwege zu vermeiden; und da es sich so verhält, daß die Wissenschaften, recht betrieben, uns letzten Endes nichts anderes als Lebensklugheit, Redlichkeit und Entschlußkraft lehren können, wollte man die Kinder von Anfang an befähigen, sie auf dem Boden der Wirklichkeit zu erlernen: nicht übers Hörensagen, sondern kraft Erprobung im Handeln. So wurden die Zöglinge auf lebendige Art geformt und zurechtgebogen, weniger durch Weisungen und Worte als durch Vorbilder und Taten, damit das Wissen kein bloßer Ankauf ihrer Seele bleibe, sondern ihr zum natürlichen, ihr ganzes Wesen und Wirken prägenden Eigentum werde. Agesilaos wurde diesbezüglich gefragt, was die Kinder seiner Meinung nach lernen müßten. »Was sie zu tun haben«, antwortete er, »wenn sie Männer geworden sind.« Kein Wunder, daß eine solche Erziehung derart rühmenswerte Leistungen erzielte! Rhetoriklehrer, Maler und Musiker holte man sich in Griechenland, heißt es, aus den anderen Städten, Gesetzgeber, hohe Beamte und Heerführer hingegen aus Sparta. In Athen lernte man, gut zu reden, hier aber, gut zu handeln; dort, sich den Fängen sophistischer Scheinargumente zu entwinden und dem Trug tückisch geknüpfter Wortnetze zu trotzen, hier, sich den Verlockungen der Wollust zu entwinden und mit großem Mut den Drohungen des Schicksals und des Todes zu trotzen; dort gab man sich mit Wörtern ab, hier mit Sachen; dort ertüchtigte man unablässig die Zunge, hier unablässig die Seele. Daher ist es gar nicht erstaunlich, daß die Spartaner dem Antipater, als er von ihnen fünfzig Kinder als Geiseln verlangte, im Gegensatz zu dem, was wir in einer solchen Lage täten, die Antwort zukommen ließen, sie würden ihm lieber die doppelte Anzahl erwachsner Männer ausliefern, so sehr fürchteten sie den der Erziehung ihres Landes drohenden Verlust. Wenn Agesilaos dem Xenophon rät, seine Kinder zur Heranbildung nach Sparta zu schicken, so nicht, damit sie dort Rhetorik oder Dialektik erlernen, sondern, wie er sagt, die schönste Wissenschaft, die es gibt: die des Gehorchens und Befehlens. Es ist äußerst amüsant zu sehen, wie Sokrates seiner Art gemäß den Hipplas zum besten hält, als dieser ihm erzählt, wie er besonders in kleinsten Kleinstädten Siziliens als Schulmeister eine hübsche Summe verdient habe, in Sparta hingegen keinen Heller, denn hier seien die Leute einfach Ignoranten, die weder zu messen noch zu zählen verstünden und auf die Grammatik sowenig Wert legten wie auf die Dichtkunst; ihre Zeit verbrächten sie allein damit, die Aufeinanderfolge der Könige sowie Entstehen und Verfall der Staaten und dergleichen geschichtlichen Plunder kennenzulernen. Als er damit zu Ende ist, bringt Sokrates ihn jedoch dazu, Stück um Stück die Vortrefflichkeit der Regierungsform Spartas sowie die glück- und tugendhafte Lebensweise seiner Bürger einzuräumen und selber hieraus die Nutzlosigkeit der von ihm gelehrten Künste zu folgern. Die Beispiele aus diesem und aus allen ähnlich kriegerischen Staaten lehren uns, daß das übliche Studium der Wissenschaften die inneren Kräfte mehr schwächt als festigt, mehr verweichlicht als stählt. Der Staat der Türken ist auf der Weltbühne zur Zeit der stärkste. Seine Völkerschaften sind dazu erzogen, die Waffen im gleichen Maße hoch, wie das Buchwissen geringzuschätzen. Ich finde, daß Rom, ehe es gelehrt wurde, tapfrer war. Die unwissendsten und ungebildetsten Völker unserer Tage sind zugleich die kriegerischsten. Die Skythen, die Parther und Tamerlan dienen uns als Beweise. Bei der Verwüstung Griechenlands durch die Goten bewahrte einer von ihnen sämtliche Bibliotheken davor, niedergebrannt zu werden, indem er die Meinung verbreitete, daß man sie zur Benutzung unbeschädigt den Feinden überlassen müsse, weil diese dann durch die müßige und sitzende Beschäftigung von der militärischen Ertüchtigung abgehalten würden. Als unser König Karl VIII. sich plötzlich als obersten Gebieter des Königreichs Neapel und eines großen Teils der Toskana sah, ohne das Schwert aus der Scheide gezogen zu haben, schrieben die Herren seines Gefolges diese unverhofft leichte Eroberung der Tatsache zu, daß die italienischen Fürsten und Adligen sich mehr damit abgegeben hätten, geistreich und gelehrt zu werden, als kampffreudig und kriegerisch.


"Essai Buch I - Ãœber die Schulmeisterei - Zweiter Teil"



Ich habe in dreierlei Lebenslagen gelebt, seit ich der Kindheit entwachsen bin. Die erste Zeit, die nahezu zwanzig Jahre gedauert hat, verbrachte ich, ohne andere als zufällige Mittel zu haben, die von den Anordnugen und der Hilfsbereitschaft anderer abhingen, ohne feste Stellung und Auskommen.

Meine zweite Lebenslage war, Geld zu haben. Als ich mich einmal darauf versessen hatte, legte ich bald für meine Umstände ansehnliche Ersparniss zurück: in der Meinung, nur das heiße Haben, was man über seinen laufenden Aufwand hinaus habe, und man dürfe sich nicht auf Einnahmen verlassen, deren Eingang erst in Erwartung stünde, so unzweifelhaft sie auch waren.

Denn wie nun, sagte ich, wenn mich dieser oder jener Zufall überraschte? Und infolge dieser eitlen und törichten Hirngespinste ging ich hin und dünkte mich sehr klug, mit meinen unnützen Ersparnissen Vorkehrung gegen jede Widerwärtigkeit zu treffen; und wußte sogar jenen zu antworten, die mir zu bedenken gaben, daß der möglichen Unglücksfälle allzu unendlich viele seien: daß es, wenn nicht gegen alle, so doch gegen einige und mehrere sei.

Das ging nicht ohne beschwerliche Plackerei ab.

Ich machte daraus eine Geheimnistuerei: und ich, der ich sonst so dreist von mir selber spreche, redete von meinem Geld nur noch Lügen, wie es die andern tun, die sich für arm ausgeben, wenn sie reich, und für reich, wenn sie arm sind, und es ihrem Gewisssen ein für allemal erlassen haben, über ihr hab und Gut wahres Zeugnis abzulegen: lächerliche und schmähliche Vorsicht.

Ging ich auf Reisen, so glaubte ich mich nie genügend vorgesehen zu haben. und je mehr ich mich mit Geld beladen hatte, um so mehr hatte ich mich auch mit Besorgnissen beladen: bald um die Sicherheit der Wege, bald um die Zuverlässigkeit der Leute, die mein Gepäck führten, dessen ich mich, wie andere, die ich kenne, nie sicher genug fühlte, wenn ich es nicht unter meinen Augen hatte. Ließ ich meine Schatulle zu Hause, wieviel Argwohn und quälende Gedanken, die ich zudem, was das Schlimmste ist, still für mich behalten müßte! Ich konnte den Geist nicht davon abwenden.

Wodurch ich in eine dritte Art von Lebensweise verfallen bin, die (ich sage, wie ich darüber denke) gewiß viel angenehmer und ruhiger ist: das ist, daß ich meine Ausgaben und meine Einkünfte nebeneinander laufen lasse; zuweilen sind die einen voraus, zuweilen die anderen; aber sie geraten nie weit auseinander. Ich lebe in den Tag hinein und bin es zufrieden, wenn ich meine täglichen und gewöhnlichen Bedürfnisse befriedigen kann: zu den außerordentlichen vermöchten alle Vorräte der welt nicht hinzureichen (...)

Wenn ich Geld zurücklege, dann nur in Voraussicht einer nahen Anschaffung: nicht um Güter zu kaufen, deren ich nicht bedarf, sondern um Vergnügen zu kaufen (...)

Und ich lobe mir höchlich das Glück eines alten Prälaten, von dem ich weiß, daß er sich so völlig seiner Börse, seiner Einnahmen und seiner Ausgaben entladen hat, zuweilen auf einen ausgewählten Diener, zuweilen auf einen andern, daß er eine lange Reihe von Jahren in gleicher Unkenntnis dieser Art von Geschäften seiner Haushaltung hingebracht hat wie ein Fremder. Das Vertrauen in die Redlichkeit anderer ist kein geringes Zeugnis der eigenen Redlichkeit: darum pflegt Gitt es gern mit seiner Gunst zu lohnen.


"Essais Buch I, XIV"



Blaise Pascal: Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne

Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne

Damals übersiedelte auch Herr Pascal nach Port-Royal-des-Champs. Ich halte mich nicht mit der Beschreibung auf, wer dieser Mann war, den nicht allein ganz Frankreich, sondern ganz Europa bewundert hat. Sein stets lebhafter und reger Geist hatte eine Weite, Höhe, Stärke, Schärfe und Klarheit, die über das hinausgingen, was man für möglich halten kann. Alle in der Mathematik gebildeten Männer mußten seine Überlegenheit anerkennen: Das bezeugt die berühmte Geschichte der Radkurve, die damals der Gesprächsstoff aller Gelehrten war. Man weiß, daß er das Kupfer zu beseelen und dem Erz einen Geist einzuhauchen schien. Er bewirkte, daß kleine vernunftlose Räder, die alle die zehn ersten Zahlen trugen, den Vernünftigsten eine vernünftige Antwort gaben, und gewissermaßen ließ er stumme Maschinen sprechen, um spielend die bei den Zahlen vorhandenen Schwierigkeiten zu lösen, die selbst die Gelehrtesten aufgehalten hatten: Dies kostete ihn so viel Fleiß und geistige Mühe, daß er, um jene Maschine, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, in der von allen bewunderten Form vernünftig zusammenzusetzen, mehr als drei Jahre seine Vernunft überanstrengte. Als dieser bewundernswerte Mann schließlich von Gott angerührt wurde, unterwarf er diesen un sagbar erhabenen Geist dem sanften Joch Jesu Christi, und dieses überaus edle und große Herz widmete sich demütig der Buße. Er kam nach Paris und warf sich Herrn Singlin in die Arme, entschlossen, alles zu tun, was dieser ihm auftragen würde.

Als Herr Singlin dieses große Genie kennenlernte, glaubte er, es sei angebracht, daß er ihn nach Port-Royal-des-Champs schickte, wo Herr Arnauld es mit ihm bei den höheren Wissenschaften aufnehmen und Herr de Saci ihn lehren würde, sie zu verachten. So übersiedelte er denn nach Port-Royal. Herr de Saci konnte es aus Höflichkeit nicht ausschlagen, ihn zu besuchen, vor allem, weil Herr Singlin ihn darum gebeten hatte; doch die heiligen Erleuchtungen, die er in der Schrift und bei den Kirchenvätern entdeckte, ließen ihn hoffen, daß alle glänzenden Eigenschaften Herrn Pascals ihn nicht verblenden würden, obwohl jeder von ihnen begeistert und entzückt war.

Tatsächlich beurteilte er alles, was Herr Pascal sagte, als sehr zutreffend. Mit Freuden erkannte er an, welche Kraft dessen Geist und dessen Äußerungen hatten. Aber in ihnen fand sich nichts Neues: Alles, was ihm Herr Pascal an Großem sagte, hatte er vor diesem bei Augustinus entdeckt; und er ließ allen Gerechtigkeit widerfahren, indem er erklärte: »Herr Pascal verdient höchste Achtung, weil er, obwohl er die Kirchenväter nicht gelesen hat, aus eigener Kraft durch seine Geistesschärfe dieselben Wahrheiten wie sie gefunden hatte. Wie Herr Pascal sagte, habe er sie für eine überraschende Entdeckung gehalten, weil er sie bei keinem anderen gefunden hätte; was aber uns betrifft, so sind wir daran gewöhnt, sie überall in unseren Büchern zu finden.« Da dieser kluge Geistliche also erkannte, daß die Alten nicht weniger Einsicht als die Modernen hatten, ließ er es dabei bewenden und schätzte Herrn Pascal sehr, weil dieser bei allem mit Augustinus übereinstimmte.

Herr de Saci verfuhr gewöhnlich so, wenn er sich unterhielt, daß er seine Gespräche jenen anpaßte, zu denen er redete. Wenn er zum Beispiel Herrn Champaigne traf, unterhielt er sich mit ihm über Malerei. Wenn er Herrn Hamon traf, redete er mit ihm über Medizin. Wenn er den Wundarzt des Ortes traf, stellte er ihm Fragen über die Wundarzneikunst. Wer Wein, Obst oder Getreide anbaute, erklärte ihm alles, was man dabei beachten muß. Alles diente ihm als Mittel, um sogleich zu Gott überzugehen und auch die anderen zu ihm zu führen. Er glaubte also, er müsse auch Herrn Pascal auf das Thema bringen, das ihm vertraut war, und zu ihm über die philosophischen Schriften sprechen, mit denen er sich am meisten beschäftigte. Bei ihren ersten gemeinsamen Gesprächen brachte er ihn nun auf dieses Thema. Herr Pascal sagte ihm, die Autoren, die er am regelmäßigsten gelesen habe, seien Epiktet und Montaigne, und er sprach sich ihm gegenüber sehr lobend über diese beiden großen Geister aus. Herr de Saci, der stets die Auffassung vertreten hatte, er solle diese Autoren wenig lesen, bat Herrn Pascal, ihn eingehend über sie zu unterrichten.

 

»Epiktet«, sagte er ihm, »ist einer von jenen Philosophen, die am besten in der ganzen Welt die Pflichten des Menschen erkannt haben.

Der Mensch soll Gott als sein Hauptziel ansehen, das vor allem will Epiktet; der Mensch soll überzeugt sein, daß Gott alles gerecht leitet; der Mensch soll sich Gott von ganzem Herzen unterwerfen und ihm freiwillig in allem folgen, da er alles mit sehr großer Weisheit vollbringt: Diese Gemütsverfassung werde folglich alle Klagen und Beschwerden verstummen lassen und den Geist des Menschen vorbereiten, alle, auch die widerwärtigsten, Ereignisse ruhig zu ertragen. ›Sagt niemals‹, erklärt er, ›ich habe dies oder jenes verloren, sagt vielmehr, ich habe es zurückgegeben. Mein Sohn ist tot, ich habe ihn zurückgegeben. Meine Frau ist tot, ich habe sie zurückgegeben. Ebenso bei den Gütern und allem übrigen. - Wer es mir nimmt, ist aber ein schlechter Mensch, sagt ihr. Worüber bekümmert ihr euch, wenn jener, der es euch geliehen hat, es von euch zurückfordert? Solange er erlaubt, daß ihr euch dessen bedient, behandelt es mit solcher Sorgfalt wie ein Gut, das einem anderen gehört, gleich einem Reisenden, der sich in einem Gasthof seiner Lage bewußt ist. Ihr dürft nicht wünschen‹, sagt er, ›daß solche Dinge, die geschehen, so geschehen, wie ihr es wollt; vielmehr müßt ihr wollen, daß sie so geschehen, wie sie geschehen. Besinnt euch‹, sagt er an einer anderen Stelle, ›daß ihr hier einem Schauspieler gleicht und daß ihr in einer Komödie jene Rolle spielt, die euch der Herr nach seinem Belieben zuweist. Gibt er euch eine kurze Rolle, so spielt sie kurz; gibt er euch eine lange Rolle, so spielt sie lang; will er, daß ihr wie ein Bettler auftretet, dann müßt ihr es so natürlich tun, wie es euch irgend möglich ist; ebenso bei allem übrigen. Eure Sache ist es, die euch zugewiesene Rolle gut zu spielen; doch sie auszuwählen ist die Sache eines anderen. Alle Tage sollt ihr den Tod und die am unerträglichsten scheinenden Übel vor Augen haben, und dann werdet ihr nie etwas Niedriges denken und nichts im Übermaß begehren.‹

Er zeigt auch tausendfach, was der Mensch tun soll. Er soll demütig sein, seine guten Vorsätze verbergen, dies vor allem in der ersten Zeit, und sie in aller Stille ausführen: Nichts richte sie mehr zugrunde, als wenn man sie an die Öffentlichkeit bringe. Unermüdlich wiederholt er, daß alles Streben und Verlangen des Menschen darin bestehen müsse, Gottes Willen zu erkennen und ihm zu gehorchen.

Das, Monsieur«, sagte Herr Pascal zu Herrn de Saci, »sind die Einsichten dieses großen Geistes, der die Pflichten des Menschen so gut erkannt hat. Ich wage die Behauptung, daß er es verdiente, angebetet zu werden, wenn er ebensogut dessen Ohnmacht erkannt hätte, weil man ja Gott sein müßte, um die Menschen das eine und das andere zu lehren. Da er indes Staub und Asche war, verliert er sich, nachdem er so genau verstanden hat, was man muß, folgendermaßen in dünkelhaften Annahmen über das, was man kann. Er sagt, Gott habe dem Menschen die Mittel gegeben, allen seinen Verpflichtungen nachzukommen; diese Mittel seien in unserer Macht; man müsse das Glück bei den Dingen suchen, die in unserer Macht seien, denn Gott habe sie uns ja zu diesem Zweck gegeben; man müsse erkennen, was es an Freiem in uns gebe; die Güter, das Leben und die allgemeine Wertschätzung seien nicht in unserer Macht und führen also auch nicht zu Gott; den Geist aber könne man nicht zwingen, etwas zu glauben, was er als falsch erkenne, und auch nicht den Willen, etwas zu lieben, wovon er wisse, daß es ihn unglücklich mache; diese beiden Kräfte seien also frei, und durch sie könnten wir uns vollkommen machen;

durch diese Kräfte könne der Mensch vollkommen Gott erkennen, ihn lie ben, ihm gehorchen, ihm gefallen, sich selbst von allen Lastern heilen, alle Tugenden annehmen, sich somit heilig und zum Gefährten Gottes machen. Diese Prinzipien eines teuflischen Hochmuts bringen ihn zu anderen Irrtümern, wie etwa: daß die Seele ein Teil der göttlichen Substanz sei; daß Schmerz und Tod keine Übel seien; daß man sich töten dürfe, wenn man so sehr verfolgt werde, daß man glauben müsse, Gott rufe uns; und andere mehr.

Was nun Montaigne angeht, über den ich Sie auch unterrichten soll, Monsieur, so bekennt er sich, da er in einem christlichen Staat geboren wurde, zur katholischen Religion, und in dieser Hinsicht hat er nichts Besonderes an sich. Da er indes herausfinden wollte, welche Moral von der Vernunft ohne das Licht des Glaubens vorgeschrieben werden müßte, hat er seine Prinzipien von dieser Voraussetzung abgeleitet; und indem er so den Menschen von jeder Offenbarung getrennt betrachtet, urteilt er folgendermaßen. Er setzt alle Dinge einem umfassenden und so allgemeinen Zweifel aus, daß dieser Zweifel sich selbst mit sich reißt, das heißt, er zweifelt, ob er zweifelt, und da er sogar an dieser letzten Voraussetzung zweifelt, dreht sich seine Ungewißheit in einem stetigen und ruhelosen Kreis um sich selbst, wobei er sich gleichermaßen gegen jene wendet, die versichern, alles sei ungewiß, wie gegen jene, die versichern, alles sei nicht ungewiß, weil er nichts als sicher anerkennen will. In diesem Zweifel, der an sich selbst zweifelt, und in dieser Unwissenheit, die nichts von sich selbst weiß und die er seine ›maîtresse forme‹ nennt, besteht das Wesen seiner Anschauung, die er mit keinem positiven Begriff ausdrücken konnte. Wenn er nämlich sagt, daß er zweifle, so verrät er ja sich selbst, indem er wenigstens als sicher anerkennt, daß er zweifelt; und da dies ausdrücklich seiner Absicht widerspricht, konnte er sich nur durch eine Frage verständlich machen, so daß er, weil er nicht sagen will: ›Ich weiß nicht‹, statt dessen sagt: ›Was weiß ich?‹; daraus macht er seinen Sinnspruch und setzt ihn über die zwei Schalen einer Waage, die sich in einem vollkommenen Gleichgewicht befinden, während sie die Widersprüche wägen: Das heißt, er ist ein reiner Pyrrhoniker. Auf diesem Prinzip beruhen alle seine Abhandlungen und Essais; und das als einziges will er fest begründen, wenn er auch seine Absicht nicht immer zu erkennen gibt. Dabei vernichtet er unmerklich alles, was unter den Menschen als das Sicherste gilt, nicht etwa, um das Gegenteil mit einer Gewißheit zu begründen, die er ja gerade als einziges ablehnt, sondern allein, um zu zeigen, daß der Schein beiden Seiten gleichermaßen günstig sei und man daher nicht wisse, was man zur Grundlage seines Glaubens machen solle.

In diesem Sinne verspottet er alle als sicher geltenden Behauptungen: Zum Beispiel bekämpft er jene, die geglaubt haben, durch die Vielzahl und die angebliche Gerechtigkeit der Gesetze ein sehr wirksames Mittel gegen die Rechtsstreitigkeiten in Frankreich einzuführen: Als könnte man die Zweifel, aus denen Prozesse entstehen, an der Wurzel abschneiden und als gäbe es Dämme, die den Strom der Ungewißheit aufhalten und die Mutmaßungen unterdrücken könnten! Dort, wo er sagt, es bleibe sich gleich, ob man die Entscheidung seines Prozesses dem erstbesten Vorübergehenden oder Richtern, die mit diesen zahlreichen Verordnungen ausgerüstet seien, anvertraue, erhebt er nicht den Anspruch, daß man die Staatsordnung verändern müsse, soviel Ehrgeiz hat er nicht; und er möchte seine Meinung auch nicht als besser hinstellen, er hält keine einzige für gut. Damit will er lediglich die Nichtigkeit der am allgemeinsten anerkannten Ansichten beweisen; und er zeigt deshalb, daß die Aufhebung aller Gesetze die Zahl der Streitfälle viel eher verringern würde als

dieser Wust von Gesetzen, der nur dazu diene, jene Zahl zu erhöhen, weil Streitigkeiten in dem Maße zunehmen, wie man sie untersuche; daß die Unklarheiten sich vermehren, wenn man sie kommentiere, und daß das sicherste Mittel, um den Sinn einer Abhandlung zu begreifen, darin bestehe, sie nicht zu prüfen und sie so aufzufassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche: Wenn man sie auch nur ein wenig näher untersuche, verfliege die ganze Klarheit. Ebenso beurteilt er alle Handlungen der Menschen und Geschichtsepisoden aufs Geratewohl bald auf eine Art und bald auf eine andere, wobei er seinem ersten Eindruck widerstandslos folgt, ohne sein Denken den Regeln der Vernunft zu unter werfen, die nur falsche Maßstäbe habe; es begeistert ihn, an seinem eigenen Beispiel die in ein und demselben Geist vorhandenen Widersprüche zu zeigen. Seiner ganz unabhängigen Geisteshaltung gemäß ist es ihm vollkommen gleichgültig, ob er sich im Wortstreit durchsetzt oder nicht, da der eine wie der andere Fall ihm stets als Mittel dienen kann, um die Haltlosigkeit der Meinungen zu zeigen; er findet ja in diesem allumfassenden Zweifel eine derart vorteilhafte Stütze, daß er sich durch seinen Sieg wie durch seine Niederlage gleichermaßen darin bestärkt.

Auf dieser Grundlage, so schwankend und unsicher sie auch ist, bekämpft er mit unbeugsamer Entschlossenheit die Ketzer seiner Zeit wegen deren Überzeugung, als einzige den wahren Sinn der Heiligen Schrift zu kennen; und davon ausgehend schleudert er außerdem noch mächtigere Blitze gegen die abscheuliche Glaubenslosigkeit derjenigen, die sich zu der Behauptung hinreißen lassen, es gebe keinen Gott. Er greift sie in der Apologie des Raimundo de Sabunde besonders hart an; und da er findet, daß sie freiwillig auf alle Offenbarung verzichtet und sich allein auf ihr natürliches Erkenntnisvermögen verlassen haben, während sie jeden Glauben ablegten, fragt er sie, auf Grund welcher Autorität sie es unternehmen, über dieses höchste Wesen zu urteilen, das seiner eigenen Definition zufolge unendlich ist - sie, die in Wahrheit nichts von der Natur erkennen! Er fragt sie weiter, auf welche Prinzipien sie sich stützen; er drängt sie, diese darzulegen. Er prüft all jene, die sie vorbringen können, und seine ihn auszeichnende Begabung erlaubt es ihm, sie so weit zu ergründen, daß er die Nichtigkeit all derer beweist, die als die natürlichsten und sichersten gelten. Er fragt, ob die Seele irgend etwas erkennt; ob sie sich selbst erkennt; ob sie Substanz oder Akzidens, Körper oder Geist ist; was jeder von diesen Teilen ist und ob es etwas gibt, was keiner von diesen Ordnungen angehört; ob sie ihren eigenen Körper erkennt; was Materie ist; ob sie die zahllose Vielfalt der Körper, wenn man ihr solche vorgeführt hat, auseinanderhalten kann; wie sie Gedanken zu bilden vermag, wenn sie materiell ist; und wie sie mit einem besonderen Körper vereinigt sein und dessen Leidenschaften mitempfinden kann, wenn sie geistig ist; wann ihre Existenz begonnen hat - gemeinsam mit dem Körper oder zuvor; ob sie mit ihm endet oder nicht; ob sie sich niemals täuscht; ob sie weiß, wann sie irregeht, da das Wesen eines Fehlurteils ja darin besteht, das nicht zu erkennen; ob sie bei solchen Unklarheiten nicht ebenso fest glaubt, daß zwei und drei sechs seien, wie sie hernach weiß, daß es fünf sind; ob die Tiere vernünftig überlegen, denken und sprechen; und wer entscheiden kann, was die Zeit ist, was der Raum oder die Ausdehnung ist, was die Bewegung ist, was eine bestimmte Einheit ist - alles Dinge, die uns umgeben und die uns völlig unerklärlich bleiben; was Gesundheit, Krankheit, Leben, Tod, Gutes, Böses, Gerechtigkeit und Sünde sind, von denen wir zu jeder Zeit sprechen; ob wir in uns Prinzipien für das Wahre haben und ob diejenigen, an die wir glauben und die man Axiome oder allgemeine Begriffe nennt, weil sie allen Menschen gemeinsam sind, mit der wesentlichen Wahrheit übereinstimmen; und - da wir ja allein durch den Glauben wissen, daß ein allgütiges Wesen uns solche gegeben hat, die wahrhaftig sind, indem es uns so geschaffen hat, daß wir die Wahrheit erkennen können - wer ohne diese Erleuchtung wissen wird, ob sie aufs Geratewohl gebildet und darum nicht doch ungewiß sind oder ob sie von einem falschen und bösen Wesen gebildet wurden und dieses uns deshalb solche gegeben hat, die falsch sind, um uns zu verführen; damit zeigt er, daß Gott und das Wahre unzertrennlich sind und daß, wenn eins von beiden existiert oder nicht, wenn es ungewiß oder gewiß ist, das andere zwangsläufig ebenso sein muß. Wer weiß also, ob der gewöhnliche Menschenverstand, den wir für den Richter der Wahrheit halten, von jenem, der ihn geschaffen hat, dieses Wesen erhielt? Wer weiß weiterhin, was Wahrheit ist, und wie kann man sicher sein, sie zu besitzen, ohne daß man sie kennt? Wer weiß gar, was das Sein ist, das sich nicht definieren läßt, weil es nichts Allgemeineres gibt und man, um es zu erklären, sich zunächst gerade desselben Wortes bedienen müßte, indem man sagte: ›Das ist das Sein ...‹? Und da wir nicht wissen, was Seele, Körper, Zeit, Raum, Bewegung, Wahrheit und das Gute sind, nicht einmal, was das Sein ist, und da wir auch nicht die Vorstellung erklären können, die wir uns davon bilden - wie können wir dann sicher sein, daß diese Vorstellung bei allen Menschen die gleiche ist, weil wir ja hierfür kein anderes Merkmal als die Einheitlichkeit der Wirkungen haben, die nicht immer ein Zeichen für die Einheitlichkeit der Ursachen ist? Denn diese können sehr wohl unterschiedlich sein und dennoch zu denselben Schlußfolgerungen führen; jeder weiß ja, daß das Wahre oft aus dem Falschen geschlossen wird.

Sehr gründlich untersucht er schließlich die Wissenschaften und die Geometrie, deren Ungewißheit er bei den Axiomen und den Begriffen zeigt, die sie nicht definiert, wie etwa Ausdehnung, Bewegung usw., und die Ungewißheit der Naturkunde zeigt er auf sehr viele andere Arten, ebenso die der Medizin mit einer Unzahl von Beispielen, und er prüft die Geschichte, die Moral, die Rechtswissenschaft und alles übrige, so daß man am Ende überzeugt ist, daß wir jetzt nicht besser als in irgendeinem Traum denken, aus dem wir erst mit dem Tode erwachen und während desselben wir ebensowenig die Prinzipien der Wahrheit wie während des natürlichen Schlafs besitzen. Daher schmäht er die des Glaubens beraubte Vernunft so hart und grausam, daß er sie zweifeln läßt, ob sie selbst vernünftig ist, ob die Tiere es sind oder nicht, ob sie es in höherem oder geringerem Maße sind, und damit läßt er sie aus der erhabenen Höhe herabsteigen, die sie sich angemaßt hat, und stellt sie aus Gnade den Tieren gleich, ohne daß er ihr erlaubt, aus dieser Ordnung herauszutreten, ehe sie nicht von ihrem Schöpfer selbst über ihre Stellung, die ihr unbekannt ist, unterrichtet wird, und dabei droht er ihr, sie, wenn sie murrt, tiefer als alles andere zu setzen, was ebenso leicht wie das Gegenteil ist, und gleichwohl gibt er ihr nur die Möglichkeit zum Handeln, wenn sie hierdurch mit aufrichtiger Demut ihre Schwäche entdeckt, anstatt sich in törichter Vermessenheit selbst zu erhöhen.«

 

Da Herr de Saci glaubte, in einem neuen Land zu leben und eine neue Sprache zu vernehmen, sagte er zu sich selbst diese Worte des heiligen Augustinus: »O Gott der Wahrheit! Sind jene, die derart scharfsinnige Überlegungen kennen, dir darum angenehmer?« Er beklagte jenen Philosophen, der sich überall an den Dornen steche und reiße, die er selbst sich schaffe, wie Augustinus es von sich gesagt habe, als er in diesem Zustand war. Nachdem er also recht lange geduldig überlegt hatte, sagte er zu Herrn Pascal:

 

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Monsieur: Ich bin sicher, wenn ich Montaigne ausführlich gelesen hätte, würde ich ihn nicht so gut kennen wie nach diesem Gespräch, das ich gerade mit Ihnen geführt habe. Jener Mann müßte wünschen, daß man ihn nur durch die Berichte kennte, die Sie von seinen Schriften geben; und er könnte mit Augustinus sagen: Ibi me vide, attende. [»Dort sieh mich, gib acht!«] Ich glaube, daß jener Mann unzweifelhaft Geist hatte, doch weiß ich nicht, ob Sie durch diese von Ihnen vorgenommene und vollkommen zutreffende Verknüpfung seiner Prinzipien ihm nicht ein wenig mehr Geist zuschreiben, als er hat. Sie können sich vorstellen, daß man mir - da ich mein Leben so und nicht anders verbracht habe - kaum geraten hat, diesen Autor zu lesen, dessen Werke insgesamt nichts von dem haben, was wir nach der Regel des heiligen Augustinus hauptsächlich bei unserer Lektüre suchen müssen, denn die Äußerungen jenes Autors scheinen nicht aus einer sehr demütigen und frommen Grundhaltung zu kommen. Man würde es jenen früheren Philosophen, die man Akademiker nannte, verzeihen, daß sie alles in Zweifel gezogen haben. Doch wozu hatte Montaigne es nötig, sich den Geist zu erheitern, indem er eine Lehre erneuerte, die heutzutage den Christen als eine Narrheit gilt? Dieses Urteil fällt der heilige Augustinus über jene Leute. Ihm folgend kann man nämlich über Montaigne sagen ...: ›Von allem, was er vorbringt, sondert er den Glauben ab; daher müssen wir, die wir den Glauben haben, ebenso alles absondern, was er vorbringt.‹ Ich tadele durchaus nicht den Geist dieses Autors, der eine große Gottesgabe ist; doch er konnte sich seiner besser bedienen und ihn lieber Gott als dem Teufel darbringen. Wozu dient ein Gut, wenn man es so schlecht nutzt? ›Quid proderat‹ [»Wofür war es nützlich«] usw.?, sagte vor seiner Bekehrung dieser heilige Kirchenlehrer über sich selbst. Sie sind glücklich, Monsieur, weil Sie sich über jene Leute erhoben haben, von denen man sagt, sie seien Doktoren, die sich in die Trunkenheit der Wissenschaft gestürzt haben, deren Herz aber keine Wahrheit enthalte. Gott hat in Ihrem Herzen andere süße Freuden und andere Zuneigungen ausgegossen als jene, die Sie bei Montaigne fanden. Er hat Sie von jener gefährlichen Lust abgebracht, a jucunditate pestifera [»vom unheilbringenden Vergnügen«], wie der heilige Augustinus sagt, der Gott dafür dankt, daß er die Sünden vergeben hat, die er begangen hatte, als er zu großes Gefallen an der Eitelkeit fand. Der heilige Augustinus ist hierin um so glaubwürdiger, als er zuvor selbst derartige Ansichten vertreten hatte; und wie Sie von Montaigne sagen, daß er mit diesem allumfassenden Zweifel die Ketzer seiner Zeit bekämpft, so hat auch der heilige Augustinus auf Grund des gleichen Zweifels der Akademiker die Ketzerei der Manichäer aufgegeben. Sobald er Gott angehörte, entsagte er diesen Eitelkeiten, die er eine Gotteslästerung nennt, und tat, was er von einigen anderen berichtet hatte. Er erkannte, mit welcher Weisheit der heilige Paulus uns warnt, damit wir uns nicht von derartigen Reden verführen lassen. Denn er gesteht, daß es darin ein gewisses mitreißendes Vergnügen gibt: Manchmal halte man Dinge nur für wahrhaftig, weil diese beredt vorgetragen werden. Das sind gefährliche Speisen, sagt er, die man indes auf schönen Schüsseln darbringt; doch diese Speisen nähren nicht das Herz, vielmehr leeren sie es aus. Man gleicht dann Schlafenden, die im Traum zu essen glauben: Diese eingebildeten Speisen lassen sie so leer, wie sie waren.«

 

Herr de Saci sagte Herrn Pascal noch dergleichen mehr: Hierauf entgegnete ihm Herr Pascal, wenn er ihm das Kompliment mache, er kenne Montaigne gründlich und wisse ihn gut auszulegen, so könne er Herrn de Saci ohne Komplimente sagen, daß dieser Augustinus noch weitaus gründlicher kenne und ihn noch weitaus besser auszulegen wisse, obgleich das wenig vorteilhaft für den armen Montaigne ausfalle. Er bestätigte Herrn de Saci, daß er über die Zuverlässigkeit aller gerade von diesem vorgebrachten Gründe zutiefst erbaut sei; da er indes noch ganz von seinem Autor eingenommen war, konnte er sich nicht zurückhalten und sagte:

 

»Ich gestehe Ihnen, Monsieur, ich kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesem Autor die hochmütige Vernunft mit ihren eigenen Waffen so unausweichlich gedemütigt wird und wie dieser überaus blutige Aufruhr des Menschen gegen den Menschen ihn aus der Gemeinschaft mit Gott, zu der er sich durch die Grundsätze (seiner schwachen Vernunft) erhoben hatte, auf die Stufe der tierischen Natur herabstürzt; und von ganzem Herzen hätte ich das Werkzeug einer derart bedeutenden Vergeltung geliebt, wenn er, der doch durch den Glauben ein Jünger der Kirche war, die Regeln der Moral befolgt hätte, indem er die Menschen, die er in so nützlicher Weise gedemütigt hatte, veranlaßt hätte, nicht durch neue Verbrechen jenen zu erzürnen, der als einziger vermag, sie von den Verbrechen zu erretten, die sie, wie er sie überführt hat, nicht einmal zu erkennen vermögen.

Doch ganz im Gegenteil handelt er als ein Heide auf die folgende Weise. Aus diesem Prinzip, daß, wie er sagt, ohne den Glauben alles ungewiß sei, und aus der Erwägung, wie lange man schon nach dem Wahren und dem Guten suche, ohne der inneren Ruhe einen Schritt näher gekommen zu sein, schließt er, daß man den anderen diese Sorge überlassen und sich unterdessen ruhig verhalten und über die Probleme leicht dahingleiten solle, damit man nicht in ihnen versinke, wenn man bei ihnen Halt suche; und man solle das Wahre und das Gute so auffassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche, ohne sie einzuzwängen, weil sie so wenig Festigkeit haben, daß sie, so schwach man auch nur die Hand zudrücke, durch die Finger schlüpfen und die Hand leer lassen. Darum richte er sich nach dem Zeugnis der Sinne und den allgemeinen Begriffen, denn er müßte ja sich selbst Gewalt antun, um sie zu verleugnen, und er wisse nicht, ob er dabei gewinnen würde, da ihm nun einmal unbekannt sei, wo sich das Wahre befinde. Daher meide er Schmerz und Tod, weil sein Instinkt ihn dazu treibe, und aus demselben Grunde wolle er sich ihnen auch nicht widersetzen, doch ohne daraus zu schließen, daß sie wirkliche Übel seien, denn er traue diesen natürlichen Regungen der Furcht nicht allzusehr, da man ja auch solche des Vergnügens empfinde, von denen man behaupte, sie seien böse, obgleich die Stimme der Natur das Gegenteil sage. Daher habe er in seinem Verhalten nichts Abartiges; er handle wie die anderen; und alles, was sie in dem törichten Gedanken tun, dem wahren Gut zu folgen, das tue er auf Grund eines anderen Prinzips, das darin bestehe - weil die Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten gleich schwer wiege -, daß das Beispiel und die Bequemlichkeit die beiden Gegengewichte seien, die ihn mit sich ziehen.

Er folgt also den Sitten seines Landes, weil er der Gewohnheit nachgibt: Er steigt auf sein Pferd wie jemand, der kein Philosoph wäre, weil es ihn erträgt, aber er glaubt nicht, daß dies sich rechtlich begründen lasse, da er ja nicht weiß, ob jenes Tier nicht im Gegenteil das Recht hat, sich seiner zu bedienen. Er tut sich auch einigen Zwang an, um gewisse Laster zu vermeiden; und er wahrt sogar die eheliche Treue wegen des Leids, das aus den Ausschweifungen erwächst; wenn aber das Leid, das er auf sich nehmen würde, über das hinausgeht, das er vermeidet, so verhält er sich weiter ruhig, da Bequemlichkeit und Sorglosigkeit bei allem die Richtschnur seines Handelns sind. Er weist deshalb jene stoische Tugend weit von sich, die man mit strenger Miene, wildem Blick, gesträubten Haaren, runzliger und schweißbedeckter Stirn, in angestrengter und gespannter Haltung, fern von den Menschen, düster schweigend und allein auf einer Felsspitze darstellt: ein Gespenst, wie er sagt, mit dem man Kinder erschrecken könne und das dabei nichts anderes tue, als mit beständigen Mühen nach der Ruhe zu suchen, zu der es nie gelange. Seine eigene Tugend ist unbefangen, umgänglich, lustig, gutgelaunt und sozusagen mutwillig; sie folgt dem, was sie entzückt, und treibt lässig ihre Späße mit den guten oder schlechten Wechselfällen, während sie auf einem bequemen Ruhelager weich gebettet ist, und dort zeigt sie den Menschen, die unter solchen Mühen das Glück suchen, daß dieses Glück nur da ist, wo sie sich der Muße hingibt, und daß die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit zwei sanfte Ruhekissen für einen gescheiten Kopf sind, wie er selbst sagt.

Ich darf Ihnen nicht vorenthalten, Monsieur, was ich, als ich diesen Autor las und ihn mit Epiktet verglich, gefunden habe: Sie waren gewiß die beiden größten Verteidiger der beiden berühmtesten Philosophenschulen der Welt und der einzigen, die mit der Vernunft übereinstimmen, denn man kann ja nur einem von diesen zwei Wegen folgen, das heißt: Entweder gibt es einen Gott, und dann sieht der Mensch in ihm sein höchstes Gut; oder Gott ist ungewiß, und dann gilt das auch für das höchste Gut, weil der Mensch unfähig ist, es zu erreichen.

Ich habe mit außerordentlichem Vergnügen an diesen unterschiedlichen Gedankengängen festgestellt, worin die einen und die anderen zu einer gewissen Übereinstimmung mit der wahrhaftigen Weisheit gelangt sind, die sie erkennen wollten. Wenn es nämlich angenehm ist, den Drang der Natur zu beobachten, Gott in allen ihren Werken darzustellen, an denen man ja einige von seinen Wesensmerkmalen wahrnimmt, weil sie seine Abbilder sind, wieviel rechtmäßiger ist es dann, in den geistigen Schöpfungen jene Anstrengungen zu betrachten, die von den großen Geistern unternommen werden, um sich nach dem Beispiel der wesentlichen Tugend zu richten, selbst wenn sie sich ihr entziehen, und festzustellen, worin sie zu ihr gelangen und worin sie von ihr abirren, wie ich es in dieser Untersuchung darlegen wollte!

Zwar haben Sie mir vorhin bewundernswert deutlich gezeigt, Monsieur, welch geringen Nutzen die Christen aus diesen philosophischen Studien ziehen können. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich trotzdem nicht darauf verzichten, Ihnen meine Gedanken noch weiter mitzuteilen, wobei ich jedoch bereit bin, mich von allen Einsichten loszusagen, die nicht von Ihnen kommen: Hierdurch werde ich den Vorteil haben, daß ich entweder selbst die Wahrheit glücklich entdeckt habe oder daß ich sie von Ihnen zuverlässig erhalte. Wie mir scheint, besteht die Quelle der Irrtümer dieser beiden Philosophenschulen darin, nicht gewußt zu haben, daß der gegenwärtige Zustand des Menschen sich von jenem seiner Schöpfung unterscheidet; derart, daß der eine gewisse Spuren der ursprünglichen Größe des Menschen bemerkt und dessen Verderbnis verkannt hat, und deshalb hat er die Natur so behandelt, als sei sie gesund und brauche keinen Heiland, was ihn auf den Gipfel des Hochmuts führt; der andere hat umgekehrt das gegenwärtige Elend des Menschen empfunden und dessen ursprüngliche Würde verkannt, und deshalb behandelt er die Natur so, als sei sie notwendig schwach und heilsunfähig, was ihn daran verzweifeln läßt, ein wahrhaftiges Gut zu erreichen, und das läßt ihn in äußerste Willenlosigkeit versinken. Da diese beiden Zustände des Menschen, die man zusammen erkennen müßte, um die ganze Wahrheit zu erfassen, also getrennt erkannt wurden, führen sie zwangsläufig zu einem dieser zwei Laster, dem Stolz und der Trägheit, denen alle Menschen unfehlbar verfallen sind, bevor die Gnade sie erleuchtet; wenn sie nämlich nicht aus Willenlosigkeit in ihren Ausschweifungen verharren, so überwinden sie diese durch ihre Eitelkeit; solch große Wahrheit kommt dem zu, was Sie mir vorhin von Augustinus gesagt haben und was ich für sehr weitreichend halte. Denn tatsächlich huldigt man diesen in vieler Hinsicht.

Auf Grund derart unvollkommener Einsichten geschieht es also, daß der eine, der die Pflichten des Menschen kennt und nicht dessen Ohnmacht, sich in der Anmaßung verliert und daß der andere, der die Ohnmacht des Menschen kennt und nicht dessen Pflicht, in Willenlosigkeit versinkt; da das eine zur Wahrheit und das andere zum Irrtum führt, scheint sich daraus zu ergeben, daß man, wenn man sie vereinigte, eine vollkommene Moral schaffen würde. Doch statt eines solchen Friedens würden sich aus ihrer Verbindung nur Krieg und allgemeine Vernichtung ergeben: Da der eine die Gewißheit und der andere den Zweifel begründet, der eine die Größe des Menschen und der andere dessen Schwäche, zerstört nun auch der eine die Wahrheit des anderen ebenso wie dessen Irrtümer. Sie können also wegen ihrer Fehler nicht allein bestehen und wegen ihrer Gegensätze sich auch nicht vereinigen, und so zerstören und vernichten sie sich gegenseitig, um der Wahrheit des Evangeliums den Platz zu überlassen. Diese bringt die Widersprüche durch eine ganz göttliche Kunst in Einklang, und indem sie alles vereinigt, was es an Wahrem gibt, und alles von sich weist, was es an Falschem gibt, macht sie daraus eine wahrhaft himmlische Weisheit, in der sich die Gegensätze ausgleichen, die in jenen menschlichen Lehren unvereinbar waren. Und der Grund dafür ist, daß jene Weltweisen die Widersprüche mit ein und derselben Ursache verbinden; denn der eine schrieb der Natur Größe zu und der andere dieser gleichen Natur Schwäche, was nicht nebeneinander bestehen konnte; statt dessen lehrt uns der Glaube, sie aus verschiedenen Ursachen herzuleiten: Alles, was es an Schwachem gibt, gehört ja der Natur; alles, was es an Mächtigem gibt, gehört ja der Gnade. Das ist die erstaunliche und neuartige Vereinigung, die Gott allein lehren und die er allein bewirken konnte, und sie ist nur ein Abbild und eine Wirkung der unsagbaren Vereinigung zweier Naturen in der einen Person eines Gottmenschen.

Ich bitte Sie um Verzeihung, Monsieur«, sagte Herr Pascal zu Herrn de Saci, »daß ich mich vor Ihnen so zur Theologie hinreißen lasse, anstatt bei der Philosophie zu bleiben, die allein mein Thema war; doch dieses Thema hat mich unmerklich zu ihr geführt; und es ist schwer, nicht auf sie einzugehen, welche Wahrheit man auch immer behandelt, weil sie der Mittelpunkt aller Wahrheiten ist; und das zeigt sich hier vollkommen, denn sie enthält ganz offenkundig all jene Wahrheiten, die in den genannten Anschauungen zu finden sind. Daher sehe ich nicht, wie einer von ihnen sich weigern könnte, ihr zu folgen. Wenn sie nämlich von dem Gedanken an die Größe des Menschen erfüllt sind, haben sie dann etwas ersinnen können, was nicht hinter den Verheißungen des Evangeliums zurückbliebe, die nichts anderes als der würdige Preis für den Tod eines Gottes sind? Und wenn sie Gefallen daran fanden, die Gebrechlichkeit der Natur zu sehen, so kommen ihre Vorstellungen doch nicht mehr jenen von der wahrhaftigen Schwäche der Sünde gleich, für die derselbe Tod das Heilmittel gewesen ist. So finden denn alle darin mehr, als sie verlangt haben; und was Bewunderung verdient: Sie finden sich darin vereint, sie, die sich auf einer unendlich tieferen Stufe nicht verbinden konnten.«

 

Herr de Saci konnte sich nicht enthalten, Herrn Pascal zu erklären, er sei überrascht, wie Herr Pascal die Dinge auszulegen wisse; gleichzeitig bekannte er jedoch, nicht jeder sei wie Herr Pascal in das Geheimnis eingeweiht, derart weise und erhabene Überlegungen aus einer solchen Lektüre zu gewinnen. Er sagte, Herr Pascal gleiche jenen tüchtigen Ärzten, die durch ihr Geschick, die stärksten Gifte richtig zu mischen, aus ihnen die stärksten Heilmittel gewinnen können. Er setzte hinzu, obgleich er deutlich sehe, weil Herr Pascal es ihm soeben gesagt habe, daß diesem eine solche Lektüre nützlich sei, könne er dennoch nicht glauben, daß sie für viele Leute vorteilhaft sei, deren Geist sich ein wenig mühsam dahinschleppe und nicht die nötige Höhe habe, um jene Autoren lesen, beurteilen und aus dem Misthaufen die Perlen herausfinden zu können, aurum ex stercore [»Gold aus dem Mist«], wie ein Kirchenvater es nannte. Dies dürfe man weitaus mehr von jenen Philosophen sagen, deren Misthaufen durch seinen schwarzen Dunst den schwankenden Glauben ihrer Leser verfinstern könne. Deshalb würde er solchen Leuten stets den Rat geben, sich nicht leichtfertig an eine derartige Lektüre zu wagen, um nicht gemeinsam mit jenen Philosophen unterzugehen und, nach der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift, das Ziel der bösen Geister und die Speise der Würmer zu werden, wie es jenen Philosophen geschehen sei.

 

»Was den Nutzen einer solchen Lektüre angeht«, sagte Herr Pascal, »so werde ich Ihnen ganz offen sagen, was ich denke. Bei Epiktet finde ich eine unvergleichliche Kunst, die Ruhe jener zu stören, die diese Ruhe bei den äußerlichen Dingen suchen, um sie zu der Erkenntnis zu zwingen, daß sie wahrhaftige Sklaven und elende Blinde sind, daß sie unmöglich etwas anderes als Irrtum und Schmerz finden, vor denen sie fliehen, wenn sie sich nicht vorbehaltlos Gott allein hingeben. Montaigne ist darin unvergleichlich, daß er den Stolz jener beschämt, die keinen Glauben haben und sich einbilden, wahrhaftige Gerechtigkeit zu besitzen, daß er jene aus ihrem Irrtum reißt, die mit aller Kraft an ihren Anschauungen festhalten und glauben, in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten zu finden, und daß er die Vernunft so klar überführt, wie wenig Einsicht sie hat und welchen Verirrungen sie unterliegt, so daß man schwerlich, wenn man von seinen Prinzipien einen guten Gebrauch macht, in Versuchung gerät, sich von den Mysterien abgestoßen zu fühlen: Denn der Geist wird von ihnen so sehr überwunden, daß er weit davon entfernt ist, darüber urteilen zu wollen, ob die Menschwerdung Christi oder das Mysterium der Eucharistie möglich ist, was die gewöhnlichen Leute nur allzuoft erörtern.

Indem Epiktet jedoch die Trägheit bekämpft, führt er zum Stolz, und daher kann er jenen sehr schädlich sein, die nicht von der Verderbnis selbst der vollkommensten Gerechtigkeit überzeugt sind, wenn diese nicht aus dem Glauben kommt. Und Montaigne ist ganz und gar unheilvoll für jene, die eine gewisse Neigung zur Gottlosigkeit und zu den Lastern haben. Darum muß eine derartige Lektüre mit großer Sorgfalt, Mäßigung und Rücksicht auf die Stellung und die Sitten jener, denen man sie anrät, geregelt werden. Es scheint mir lediglich, wenn man die Lektüre des einen und des anderen miteinander verbindet, so könnte das nicht allzu übel ausgehen, weil die Lektüre des einen sich der Schädlichkeit des anderen widersetzt: nicht, daß sie zusammen Tugend geben können, doch sie können immerhin Verwirrung stiften, wenn man den Lastern ergeben ist: Die Seele wird ja von diesen Gegensätzen bedrängt, deren einer den Stolz und der andere die Trägheit vertreibt; und durch ihre Überlegungen kann sie keine Ruhe bei einem dieser Laster finden und auch nicht vor ihnen allen fliehen.«

 

So einigten sich schließlich diese beiden wahrhaft geistvollen Männer über das Problem, ob man jene Philosophen lesen solle, und trafen sich an einem gemeinsamen Endpunkt, den sie gleichwohl mit etwas unterschiedlichen Methoden erreichten: Herr de Saci war ja mit einem Male durch die klare Einsicht des Christentums dorthin gelangt, und Herr Pascal erst nach vielen Umwegen, indem er sich an die Prinzipien jener Philosophen hielt.

Als Herr de Saci und ganz Port-Royal-des-Champs somit vollkommen von der Freude erfüllt waren, die Herrn Pascals Bekehrung und Einsichten hervorriefen, und man an ihm die allmächtige Kraft der Gnade bewunderte, die durch eine Barmherzigkeit, für die es wenig Beispiele gibt, diesen an sich so erhabenen Geist so tief erniedrigt hatte, usw. ...


"Blaise Pascal: Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne"




1 2 




copyright virtuSens 2024     Technik Wolke Softwareentwicklung