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Sternenfreundschaft

Lou Salomé war 21. Jahre alt, als sie den fünfzehn Jahre älteren Friedrich Nietzsche kennen lernt.

Zu Lou: Achtzehnjährig gerät Lou Andreas SalomeLouise Salomé in Petersburg, wo ihre Familie lebt, in den Bann des fünfundzwanzig Jahre älteren Pastors Gillot, der für die Gemeinde der holländischen Gesandtschaft in Petersburg predigte. Als sie ihn bei einer seiner Predigten hört, sucht sie ihn auf, und er nimmt sie als philosophische Schülerin an. Louise ist von einer grenzenlosen Wissensbegier getrieben, die Gillot, soweit es ihm intellektuell möglich ist, zu stillen versucht. Die Notizhefte Louises aus dieser Zeit geben Auskunft über den Umfang der Interessen, Themen und Anregungen: Philosophie, Religionsgeschichte, Theologie, Literatur - über alles diskutieren der Lehrer und seine über alle Maßen ehrgeizige und aufgeweckte Schülerin. Es passiert, was passieren muß: der schon verheiratete Lehrer verliebt sich in die Schülerin, (die intellektuell längst über den Lehrer hinausgewachsen ist ) und macht ihr einen Antrag. Louise lehnt brüsk ab, denn ihr Wissensdurst ist noch längst nicht gestillt - alle emotionalen Bindungen behindern für sie nur das unabhängige Suchen nach reiner Erkenntnis. Die Freundschaft zu Gillot bleibt zwar bestehen, Louise aber ist klar, daß sie, um einen Eklat zu verhindern und, um die intellektuelle Neugier zu befriedigen, aus Petersburg fortgehen muß. So kommt es Anfang 1880 zu einer letzten Reise mit Gillot und der Mutter nach Holland: Louise braucht die Konfirmation, die sie bislang standhaft verweigert hatte, da ihr sonst kein Pass ausgestellt worden wäre, um in Europa zu reisen. Die Feierlichkeit wird von Gillot genau nach den Vorstellungen Lous durchgeführt und besiegelt gleichzeitig die Trennung von diesem. Er tauft sie dabei auf den Namen 'Lou'.

Im September 1880 reist Lou endgültig zusammen mit der Mutter nach Zürich ab: Die dortige Universität nimmt als einer der ersten auch Frauen zum Studium an; da Lou keinen entsprechenden Schulabschluß hat, führt der dortige Prof. Biedermann (ausgerechnet der theologische Lehrer von Gillot) eine Prüfung durch und nimmt sie als Studentin an. Sie hört unter anderem allgemeine Religionsphilosophie, Religionsgeschichte, Logik, Metaphysik, Archäologie und Geschichte. Der Ausbruch einer Lungenkrankheit erzwingt die Unterbrechung des Studiums; da man nach damaliger Ansicht ein warmes Klima für günstig hält, wenden sich die beiden Frauen nach Rom, wo sie im Februar 1882 eintreffen; auf Empfehlung des Züricher Prof. Kinkel, bei dem Lou Kunstgeschichte gehört hat, führt Malwida von Meysenbug Lou am 11.2.1882 in ihre Kreise ein.

Bereits Mitte März machte Lou in diesem Zirkel die Bekanntschaft mit Nietzsches Freund Paul Rée. Er kam, Paul Réenachdem er in Monte Carlo alles Geld verspielt hatte, mittellos nach Rom, wo ihm Malwida von Meysenbug aus der prekären Lage hilft. Lou Salomé, erkennt wohl intuitiv, daß der schüchterne und überaus intelligente Paul Rée geeignet war, ihr weitere geistige Fortschritte zu ermöglichen. Sicher war zudem, daß sie früher oder später auch Friedrich Nietzsche kennen lernen würde, von dem sicherlich häufig die Rede in dem Kreis um Malwida von Meysenbug war; vermutlich noch mehr, nachdem nun der Freund Rée aufgetaucht war und Nietzsche selbst vielleicht von seinem Winter-Überlebensort Genua nach Rom kommen würde. Rée berichtete, wie wir aus dem leider verloren gegangenen Brief wissen, Nietzsche sofort von dieser ergreifenden Begegnung mit der jungen Russin. Nietzsches Reaktion auf Rées Brief zitiert ja schon der vorherige Abschnitt ("ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern" - interessant ist aber Nietzsches Überlegung zu einer eventuellen Ehe mit der Russin, die vermutlich Rée angesprochen haben mußte: "(...) Ein ganz anderes Kapitel ist die Ehe - ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verständigen, und auch nur in Anbetracht dessen, was ich in den nächsten 10 Jahren zu tun habe." so antwortet Nietzsche im März 1882 aus Genua. Nietzsche ordnet also erstens die Ehe der Arbeit unter, zweitens beschränkt er die Dauer der Ehe und drittens liest sich diese Antwort, als hätte Rée schon vorbereitende Maßnahmen für Nietzsche getroffen, die Nietzsche in Schranken halten muß. Wie paßt aber dieser Brief zu der Tatsache, daß der verliebte Rée seinerseits schon nach den ersten Tagen der Bekanntschaft mit Lou Salomé und gemeinsamen nächtlichen Spaziergängen durch Rom der jungen Russin einen Heiratsantrag macht und, wie zwei Jahre zuvor Gillot, abgewiesen wird? - Freundschaft und gemeinsames Denken ja, Ehe nein! - so Lous Antwort.

Nietzsche wird übrigens von Rée nicht über diesen vergeblichen Antrag in Kenntnis gesetzt - und auch nicht von den Vorstellungen von Partnerschaft, die Lou Salomé einzugehen bereit ist. Viele emotionale Missverständnisse (besonders bei Nietzsche), so scheint es, liegen hier schon im Keim verborgen - den Täuschungen folgen schließlich beinahe zwangsläufig die Ent-Täuschungen. Nietzsche wird dabei, so scheint es, insgesamt im Unklaren über das Verhältnis Rée und Lou gelassen, während Nietzsche generell mit offenen Karten (wenigstens bei Rée und Lou spielt) spielt. Aus später noch mehr als verständlichen Gründen schweigt er zunächst über Lou bei Mutter und Schwester, auch wenn die Schwester uns in einem gefälschten Brief weismachen will, es wäre anders gewesen.

Nietzsche kommt in Rom an, erholt sich zunächst, wie gewöhnlich von den Anfällen, die jede Klimaänderung begleiten, und wird um den 24. März 1882 herzlich von Malwida von Meysenbug in ihrer herrschaftlichen Wohnung in der Via della Polviera Rom - Blick über die Engelsbrücke(mit Blick auf den Petersdom) empfangen. Nietzsche erwartet, endlich auch Lou und Rée zu treffen, diese, so erfährt er, seien aber im Petersdom. Nietzsche macht sich umgehend auf den Weg. Hier kommt es zur schicksalhaften Begegnung, die Lou Salomé in ihrem Lebensrückblick so erzählt: "Dieses Feierlichen entsinne ich mich schon von unserer allerersten Begegnung her, die in der Peterskirche stattfand, wo Paul Rée, in einem besonders günstig zum Licht stehenden Beichtstuhl, seinen Arbeitsnotizen mit Feuer und Frömmigkeit oblag und wohin Nietzsche deshalb gewiesen worden war. Seine erste Begrüßung meiner waren die Worte: "Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?" Helmut Walther analysiert diese pathetische Begrüßung in seiner herausragenden Untersuchung zu Nietzsche, Lou und Rée zurecht folgendermaßen: "Zu dieser etwas hochtrabenden (und berühmt gewordenen) Begrüßungsformel darf sich Nietzsche einerseits sicherlich aus dem Vorlauf heraus berechtigt halten, nachdem ihm Lou von Rée und Malwida brieflich gerühmt worden war; des weiteren dürfte diese Formulierung alles andere als spontan gefallen sein, vielmehr hatte sich Nietzsche sicherlich überlegt, wie unter diesen Umständen am ehesten Eindruck zu machen sei - nun, das scheint ihm gelungen zu sein ..." Lou kommt in ihren Erinnerungen auch auf den ersten Eindruck zurück, den Nietzsche auf sie machte: "Ich erinnere mich, daß, als ich Nietzsche zum ersten Male sprach, - es war an einem Frühlingstage in der Rom - Petersdom innenPeterskirche zu Rom, - während der ersten Minuten das gesucht Formvolle an ihm mich frappierte und täuschte." Auch redet sie von dem "feierlichen Wesen" Nietzsches, was eine leise Kritik andeutet. Lou Salomé spricht hier natürlich aus der Erinnerung, im Wissen um das Ende des Verhältnisses und auch im Wissen der Umnachtung. Trotzdem, - dieser kurze Eindruck, wie auch folgende Beschreibung Nietzsches, verdient, genannt zu werden. Lou schreibt, daß: "der Gesamtausdruck seines Wesens bereits völlig vom tief bewegten Innenleben durchdrungen war, und selbst noch in dem bezeichnend blieb, was er zurückhielt und verbarg. Ich möchte sagen: dieses Verborgene, die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit, - das war der erste, starke Eindruck, durch den Nietzsches Erscheinung fesselte." Das sind nicht eben die Worte einer Verliebten.

Nietzsche Friedrich Nietzsche 1882jedoch, der durch Rées Brief gleichsam in die Irre geführt ist, begeistert sich umgehend so für Lou, daß er der "merkwürdigen Russin" einen Heiratsantrag macht. Als Fürsprecher für sich wählt er ausgerechnet seinen Freund Rée. Das schien Nietzsche nach Rées erstem Brief über Lou, der leider, leider verloren gegangen ist, offensichtlich das richtige Vorgehen. Hinzu kam bei Nietzsche gewiss die höfliche Rücksichtnahme auf den gesellschaftlichen Ruf Lou Salomés, mit der er ja sonst in wilder Ehe zusammenleben hätte müssen. Nietzsche entschied sich mit Lou für Gesundheit und die Fortsetzung seiner philosophischen Aufgabe. Eine Ehe mit einer verständigen und verständnisvollen Frau erschien Nietzsche somit wenigstens für eine überschaubare Zeit (zwei Jahre) das Ideale. Was aber ging in Nietzsches Freund vor, der doch sicherlich wissen mußte, daß und warum Lou ablehnen würde? Längst schon hatten Lou und Rée sich darauf geeinigt, gemeinsam als freie Geister in einer europäischen Metropole (Wien) geistige Studien zu betreiben.

Lou schreibt über diesen Antrag in ihren Erinnerungen: "Es wurde beschlossen, Nietzsche vor allem meine grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt klarzulegen (...). Als wir Rom verließen, schien das zunächst erledigt." "Es wurde beschlossen" meint ja vermutlich, daß Lou und Rée beschlossen hatten, Nietzsche diese Begründung vorzulegen - allemal ein ungereimte Inszenierung. Wichtig scheint insgesamt der Umstand, daß die latente Gefahr eines Bruches erst einmal abgewendet ist und Nietzsche sogar in den Plan eines gemeinsamen wissenschaftlichen Studienaufenthalts in Wien (oder nun, auf Vorschlag Nietzsches, Paris) eingebunden wird. Das entstandene Verhältnis nennt Lou zwar 'Dreieinigkeit', doch bleibt Nietzsche zuletzt immer außen vor - mag er sich auch während der ganzen Lou-Episode anderen Illusionen hingeben.


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